Vortrag für den 31. Internationaler Hegel-Kongress, 17. bis 20. Mai 2016, Ruhr-Universität Bochum.
Einführung
Dieser Beitrag erforscht das Kongressthema ‚Selbsterkenntnis’ im Ausgangspunkt von Hegels Rechtsphilosophie. Sie wird mit der heutigen politischen Debatte über die multikulturelle Gesellschaft und das Phänomen der ‚Wiederkehr der Religion’ verknüpft. Als Philosophie des objektiven Geistes bildet die Rechtsphilosophie Hegels die Vermittlungsstufe zwischen dem sich innerlich bleibenden subjektiven Geist und demjenigen Selbst, das im absoluten Erkenntnisanspruch des ‚Erkenne dich selbst’ ausgesprochen wird. Gegen das gängige Verständnis von Freiheit als unmittelbare individuelle Selbstbestimmung, freie Willkür und bloße Meinung hebt Hegel zu Recht hervor, dass Freiheit einer substanziellen Grundlage bedarf, die sich das einzelne Individuum nur zueignen kann, wenn es (erstens) in einem Staat lebt, der ihn (zweitens) befähigt, durch einen Bildungsprozess zur Selbsterkenntnis zu gelangen. Nur im Staat wird das Individuum absolut anerkannt; nur durch einen Bildungsprozess kann das konkrete, lebendige Individuum über seine Subjektivität hinausgehen, und sich zum Bürger eines Staates, zur wirklich freien Individualität überhaupt, bilden.
Hegels Begriff des modernen Staates wird sehr oft kritisch in Frage gestellt. Insbesondere seine These, dass der Staat die Substanz der Freiheit sei, polarisiert die heutigen Debatten über Hegels Erbe, weil Hegel damit der objektiven Wirklichkeit des Staates einen absoluten Anschein gibt. Die allgemeine Tendenz ist, bei der Aktualisierung der Rechtsphilosophie Hegels seine Philosophie des absoluten Geistes abzustreifen, weil sie sich mit den heutigen pluralistischen Gesellschaftsformen angeblich nicht verträgt. Dagegen behaupte ich aber, dass gerade das Verhältnis vom objektiven und absoluten Geist durchaus geeignet ist, um die multikulturelle Gesellschaft zu verstehen. Im Grunde genommen besteht mein Argument darin, dass das Verhältnis vom objektiven und absoluten Geist, d.h. wie der Geist an und für sich ist, bei Hegel zweimal vorkommt: einmal als Gegenstand der Philosophie, aber auch einmal als Gegenstand der Religion. Bereits in der frühen Phänomenologie des Geistes betont Hegel, dass Philosophie und Religion ihren Gegenstand gemein haben, und nur der Form nach verschieden sind. In der Rechtsphilosophie findet demgemäß eine doppelte Begründung des objektiven Geistes im absoluten Geistes statt: sowohl über die Philosophie, als auch über die Religion.[1] Im vorliegenden Beitrag werde ich diese These weiter ausführen und ihre Bedeutung für die heutigen Diskussionen über die multikulturelle Gesellschaft aufzeigen.
Rawls’ Deutung des Multikulturalismus
In den heutigen Debatten über die multikulturelle Gesellschaft sind insbesondere die von Habermas und Rawls vertretenen Thesen wichtig. In ihrer Diskussion spielt die Philosophie Hegels eine merkwürdige Rolle. Obwohl Habermas meistens kritisch mit Hegel umgeht, greift er hier auf Hegel zurück, um eine Kritik an Rawls zu formulieren.[2] Nach Habermas erkennt Rawls’ Kontraktualismus und seine Grundlage, die rationelle Argumentation, die soziale Grundlage der Gesellschaft zu wenig an. Er hebt an dieser Stelle hervor, dass man genau mit Hegels Theorie der Anerkennung in der Hand Rawls an diesem Punkt kritisieren könne. Doch Habermas’ Bewertung von Hegel ist in zweifacher Hinsicht falsch. Erstens überzeugt sie nicht als immanente Kritik an Rawls, sondern stellt nur eine Gegenposition zu seiner Philosophie dar. Zweitens tut Habermas, als ob die Substanz des objektiven Geistes und die gesellschaftliche Basis des Politischen nach Hegel dasselbe sei, damit er Hegels Begriff der Anerkennung primär als intersubjektiv deuten kann, statt ihn als Einheit von Intersubjektivität und Objektivität zu erfassen. Doch nur mit einem Begriff des objektiven Geistes, der die Einheit von Objektivität und Intersubjektivität darstellt, können wir Rawls erfolgreich kritisieren.
Der späte Rawls versteht seinen Kontraktualismus im folgenden Sinne: „to work out a political conception of political justice for a constitutional democratic regime that a plurality of reasonable doctrines, both religious and nonreligious, liberal and nonliberal, may freely endorse“.[3] Dieser Pluralismus wird darüber hinaus unter der Bedingung der „fact of reasonable pluralism“ gesetzt.[4] Einerseits soll eine politische Konzeption nach Rawls selbstverständlich vernünftig sein, sonst wäre sie nicht mit Demokratie vereinbar. Aber andererseits meint er, dass eine vernünftige Position notwendigerweise ‚politisch’ sein soll, weil eine universelle und überpolitische Position der Vernunft historisch unmöglich geworden sei. Die Inkommensurabilität zwischen unterschiedlichen ‚reasonable comprehensive doctrines’ kann nicht überbrückt werden. Deshalb sei philosophische, moralische und religiöse Übereinstimmung zwar unmöglich geworden, aber politische Übereinstimmung sei trotzdem möglich. Nach Rawls kann jede umfassende Doktrin, insofern sie vernünftig ist, von sich selbst einsehen, dass die Unmöglichkeit der philosophischen, moralischen und religiösen Übereinstimmung ein unauflösbares Bedürfnis zur Argumentation, ein ‚Burden of Judgment’, mit sich führt. Die Vernunft ist in der Politik da, wenn anerkannt wird, dass sich niemand anmaßen kann, die absolut und universal wahre Doktrin zu besitzen.
Rawls macht die wichtige Beobachtung, dass sich die multikulturelle Gesellschaft durch die Paradoxie zwischen Vernunft und Pluralismus kennzeichnet. Einerseits ist der Pluralismus erst möglich, weil sich der Staat im Standpunkt der Vernunft gründet (auch Rawls’ Ausgangspunkt ist die Freiheit und Gleichheit von allen). Andererseits stellt der Pluralismus die Geltung des vernünftigen Standpunkts durchaus in Frage. Im Grunde findet Rawls dieselbe Lösung wie Habermas, nämlich, dass die tätige Vernunft niemals offenbar ist, sondern sich hinter dem pluralistischen Weltgeschehen verbirgt. Seine Lösung ist nur anders, insofern Rawls die verborgene Wirkung der Vernunft nicht in eine Diskurstheorie mit einer sozialen Basis, sondern in eine rationelle Diskurstheorie sucht. Diese doppeldeutige Bedeutung der rationellen Argumentation innerhalb einer pluralistischen Gesellschaft, niemals absolut zu sein, aber doch die Tätigkeit der Vernunft in der Welt darzustellen, schließt bei Kants Kritik der Metaphysik an.
Das Grundproblem, das Rawls im Faktum des Pluralismus bestätigt sieht, ist sehr nah an Kants These über die endliche Rationalität. Rawls behauptet zu Unrecht, dass seine Kritik an der unbedingten Gültigkeit der rationellen Argumentation eine Kritik an Kant sei.[5] In der Grundlegung der Metaphysik der Sitten betont Kant, dass Ideen wie Wahrheit, Vernunft, Freiheit, Gerechtigkeit, etc. nicht nur durch Erfahrung unerkennbar sind, sondern auch über die Verstandeswelt hinausgehen.[6] Ebenso ist Rawls’ These, dass rationelle Argumentation nur bedingt im Rahmen einer Mannigfaltigkeit inkommensurabler Perspektiven vorkomme, an Kants These in der Kritik der Urteilskraft, dass Rationalität (die in der Spontaneität des transzendentalen Subjekts gegründete Kategorien des Verstandes) nur vermittelt einer indirekten Darstellung, d.h. gewissermaßen sinnlich vermittelt, mit der übersinnlichen Sphäre von Freiheit und Vernunft verknüpft werden kann, nicht entgegengesetzt.[7] Diese Darstellung des Unbedingten bleibt auch für Kant immer eine endliche Perspektive. Rawls hat zwar Recht, dass endliche Perspektiven Mannigfaltigkeit nicht ausschließen, aber es bleibt die Frage, ob das Verhältnis zwischen den verschiedenen Perspektiven adäquat als Inkommensurabilität verstanden werden soll. Aus der Sicht der Philosophie Hegels ist dieses Verständnis auf jedem Fall viel zu undifferenziert.
Multikulturalismus als Verhältnis vom absoluten und objektiven Geist
Es ist sinnvoll näher zu betrachten, wie Rawls’ Frage der politischen Rechtfertigung in Hegels Rechtsphilosophie vorkommt. Hegel versteht den modernen Staat als objektive Wirklichkeit der Freiheit. Das heißt, dass der Staat auch eine substantielle Existenzbedingung für Pluralismus darstellt, weil Freiheit für Hegel der Endlichkeit nicht entgegengesetzt ist; vielmehr verwirklicht sich das freie Selbst in endlichen und somit pluralistischen Verhältnissen. Der Staat muss gleichwohl über diese Verhältnisse hinausgehen, weil ein Selbst, das in endlichen Verhältnissen stehen bleibt, nicht wirklich frei ist. Die Frage der politischen Rechtfertigung ist deshalb nicht, wie Rawls meint, wie wir trotz Pluralismus politische Übereinstimmung erreichen können. Vielmehr ist die Frage, wie können wir nicht bloß die faktische Realität des Pluralismus, sondern auch ihre Bedingung, das Dasein eines vernünftigen Staates, anerkennen?
Hegel beantwortet diese Frage, indem er erklärt, dass der Staat nicht bloß die formalrechtlichen Bedingungen (Freiheit und Gleichheit aller Staatsbürger, Anerkennung von Menschenrechten, demokratische Verfassung, etc.) sichern, sondern darüber hinaus diejenigen Institutionen entwickeln soll, die es den Staatsbürger möglich machen, den Staat in dem sie leben, als Wirklichkeit ihrer Freiheit anzuerkennen. Doch die Art und Weise, wie Hegel diese Anerkennung der Wirklichkeit der Freiheit auf der Ebene der Rechtsphilosophie entwickelt, ist m.E. zu doppeldeutig.
Einerseits erörtert Hegel, dass eine solche Anerkennung nur durch einen Bildungsprozess möglich ist. In der Rechtsphilosophie schreibt er: „Durch diese Arbeit der Bildung ist es aber, daß der subjektive Wille selbst in sich die Objektivität gewinnt, in der er sich seinerseits allein würdig und fähig ist, die Wirklichkeit der Idee zu sein.“[8] Andererseits betont Hegel an mehreren Stellen, dass die angemessene Form, in der die Anerkennung des Staates als Wirklichkeit der Freiheit für die Staatsbürger erscheint, die Religion ist. So schreibt er zum Beispiel: “Aber der Form nach…, kommt dem religiösen Inhalte, als der reinen an und für sich seienden, also höchsten Wahrheit, die Sanktionierung der in empirischer Wirklichkeit stehenden Sittlichkeit zu; so ist die Religion für das Selbstbewußtsein die Basis der Sittlichkeit und des Staates.”[9] Es fehlt in der Rechtsphilosophie Hegels aber an einer Verknüpfung dieser beiden Elemente.
Bei Hegel ist der Bildungsprozess nicht explizit über das religiöse Bewusstsein, sondern über das System der Bedürfnisse vermittelt. Zwar ist das religiöse Bewusstsein (des protestantischen Christentums) m.E. die Voraussetzung des Systems der Bedürfnisse,[10] aber insofern diese Voraussetzung implizit bleibt, wird die religiöse Bedingtheit des Systems der Bedürfnisse verdeckt. Die stets schimmernde Anwesenheit der Religion in der Rechtsphilosophie ist nicht als solche ein Problem. Die explizite Verknüpfung von Recht und Religion, die Hegel in § 270 darstellt, heißt weder, dass bei ihm der Staat übermäßig sakralisiert wird, noch, dass das Christentum übermäßig säkularisiert wird.[11] Der Mangel der Rechtsphilosophie besteht darin, dass Hegel die Form der Religion, die er sonst als endliche Erscheinung eines absoluten Inhalts begreift, unmittelbar und exklusiv mit der empirisch vorhandenen Religion des Protestantismus gleichsetzt. Durch diese Gleichsetzung kann das Spezifische der Religionsformen, nämlich die Trennung von Form und Inhalt, nicht dargestellt werden; und das heißt, dass der Verhältnischarakter des absoluten Geistes auf der Ebene des objektiven Geistes unzureichend reflektiert wird.
Es sei möglich, dass Rawls an dieser Stelle für die Aktualisierung der Rechtsphilosophie Hegels hilfreich sein könnte. Zuerst muss erkennt werden, dass Rawls die Frage der politischen Legitimität überhaupt mit der Frage vermischt, wie diese Legitimität für die Bürger erscheint. Hegels Unterscheidung zwischen Philosophie und Religion klärt diese Vermischung auf, weil die Philosophie der Selbstbegriff des Staates und die Religion dieser Selbstbegriff für das Selbstbewusstsein der Bürger ist. Das, was Hegel als religiöses Bewusstsein bezeichnet, kann als eine vernünftige umfassende Lehre verstanden werden, weil es eine endliche und beschränkte Argumentation darbietet, die andere Argumentationen nicht ausschließt, aber dennoch vernünftig ist, weil sie zu einem vernünftigen Zweck, die Legitimierung des Staates, dient. Das philosophische Bewusstsein dagegen, kann nicht als umfassende Lehre verstanden werden, weil es rein begrifflich und nicht vorstellend hervorgeht. Die philosophische Begriffsentwicklung ist exklusiv eine Sache der logischen Notwendigkeit, demzufolge kann es stricto sensu zu einer gleichen Zeit nicht mehrere Philosophien geben, die alle wahr sind.
Hegel meinte aber selbst, auf Grund des empirischen Vorhandenseins einer Religion, die den Zwecken der Philosophie dient, in der Rechtsphilosophie von dieser Unterscheidung von Religion und Philosophie absehen zu können. Mit Rawls können wir dagegen einsehen, dass die Unterscheidung nicht bloß philosophisch, sondern auch politisch anerkannt werden soll. Gerade in einem demokratischen Staat ist Hegels Begriff des absoluten Geistes politisch relevant geworden.
Aktualisierung des Hegelschen Bildungsbegriffs
In der Rechtsphilosophie muss die religiöse Vorstellung nicht bloß als die Voraussetzung der Bildung, sondern als ihr Resultat aufgewiesen werden. Das religiöse Bewusstsein, das sich zum Selbstbewusstsein des Staates bildet, muss grundsätzlich lernen, dass der Staat zwar die Verwirklichung eines absoluten Inhalts ist, aber als wirklicher Staat auch endlich ist. Eine solche Bildung kann im Detail hier nicht ausgeführt werden, aber ihr Grundriss kann verständlich gemacht werden. In den letzten drei Kapiteln der Phänomenologie des Geistes, nämlich über Moralität, Religion und Philosophie,[12] präsentiert Hegel die Religion als die ‚erste’ Überwindung der moralischen Standpunts Kants. Die Philosophie ist die ‚zweite’ Überwindung: sie ist der absolute Selbstbegriff, der ausdrückt, was das Wahre an und für sich selbst ist. Warum macht die zweite Überwindung die erste nicht überflüssig?
Die Wahrheit der Philosophie Kants besteht nach Hegel darin, dass das Absolute, die Freiheit, nur innerlich im Subjekt, als Inhalt des Bewusstseins der moralischen Pflicht, festgehalten werden kann. Als Inhalt der Pflicht hat die Freiheit sich aber aus aller Wirklichkeit zurückgezogen und sich als ein übersinnliches Wesen erwiesen. Nur in der Vorstellung kann das übersinnliche Wesen bestimmt werden. Erst hier macht Hegel Kant den eigentlichen Vorwurf. Das moralische Bewusstsein kann sich keine Vorstellung seiner Freiheit machen: „Für das moralische Bewußtsein selbst hat jedoch seine moralische Weltanschauung nicht die Bedeutung, daß es in ihr seinen eigenen Begriff entwickelt und ihn sich zum Gegenstande macht; es hat weder ein Bewußtsein über diesen Gegensatz der Form noch auch über den Gegensatz dem Inhalte nach, dessen Teile es nicht untereinander bezieht und vergleicht, sondern in seiner Entwicklung sich, ohne der zusammenhaltende Begriff der Momente zu sein, fortwälzt.“[13]
Kants These über die indirekte Darstellung wird deshalb von Hegel abgelehnt. Erst das religiöse Bewusstsein, im Gegensatz zum moralischen, ist im Stande, das Absolute in der Vorstellung zu haben. Eine adäquate Vorstellung des Absoluten ist nur diejenige, in der das Absolute für das Selbstbewusstsein als sein eigenes Wesen, als Selbstbewusstsein erscheint. Das Selbst, das dem moralischen Bewusstsein unerreichbarer Endzweck ist, ist die innere Gewissheit des religiösen Bewusstseins. Die Wahrheit der Religion, dass der moralische Endzweck der Anfang der Welt ist, ist aber nicht für das religiöse Bewusstsein. Das Bewusstsein gewinnt diese Wahrheit bloß durch ihre vollständige Selbstdurchdringung und Enthüllung des Vorstellungscharakters der Religion. Es hört auf, religiös zu sein, und wird letztlich philosophisch. Die Aufhebung der beschränkten Form der Religion bedeutet, dass die innere Gewissheit, dass die Wirklichkeit selbstbewusst ist, in der selbstbewusst werdenden Wirklichkeit zur Wahrheit geführt wird. Diese Entwicklung des Bewusstseins, in der Moralität absolut auf sein Inneres zurückgeworfen zu werden, sich in der Religion in der Welt wiederzufinden, und in der Philosophie diese Welt als eine endliche zu durchschauen, soll in der Bildung nachvollzogen werden.
Ein schwieriger Punkt in der Neubewertung des Begriffs des absoluten Geistes ist aber, dass es heutzutage nicht selbstverständlich ist, die Verwirklichung der Freiheit als die Verwirklichung eines absoluten Inhalts zu sehen. Auch Rawls ist in dieser Hinsicht weniger reflektiert als Kant. Indem Rawls die horizontale Freiheit, die Gleichheit der Bürger, gegenüber der Moralität priorisiert, verkennt er die vertikale Freiheit, die innere Verankerung des einzelnen Subjekts im Absoluten. Doch die wahre Bildung muss mit dem moralischen Bewusstsein anfangen, denn sie kann keinen Inhalt entwickeln, der nicht von Anfang an rein unmittelbar ihr Gegenstand ist. Bei Hegel dagegen ist die Gleichheit der Bürger, genauso wie bei Rawls in den herrschenden Eigentumsverhältnissen objektiviert, durch die Moralität vermittelt. In Hegels System der Bedürfnisse ist deshalb die Moralität von Anfang an als Verlust der Sittlichkeit integriert. Ohne diesen Verlust gibt es nach Hegel keine wirkliche Freiheit. Er ist eine absolute Negativität, die absolut durchstanden werden soll. Das heutige Paradigma, die multikulturelle Gesellschaft ausschließlich als Pluralität von Traditionen vorzustellen, ohne anzuerkennen, wie vor allem Kants aufgeklärter Freiheitsbegriff jede Weltanschauung schon von innen aus zerrissen hat, bleibt auch in dieser Hinsicht noch einseitig.
[1] G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Hamburg 2009, § 270.
[2] Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung: Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt am Main 1998, S. 86.
[3] John Rawls, Political Liberalism, New York 1993, S. xxxviii.
[4] Ebd., xviii
[5] Ebd. S. 89 ff. Rawls präsentiert sein political constructivism als eine kritische Reflexion über Kants praktische Philosophie.
[6] Immanuel Kant, Grundlegung der Metaphysik der Sitten, Frankfurt a/M 1974, S. 88 (BA 109)
[7] Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Frankfurt a/M 1974, S. 294 ff. (§ 59).
[8] Hegel, Grundlinien, § 187.
[9] G.W.F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, Hamburg 1992, § 552. Vgl. ebd. § 482: „Wenn in der Religion als solcher der Mensch als Verhältniß zum absoluten Geiste als sein Wesen weiß, so hat er weiterhin den göttlichen Geist auch als in die Sphäre der weltlichen Existenz tretend gegenwärtig, als die Substanz des Staats, der Familie, u.s.f.“
[10] Vgl. Andrew Buchwalter, „Religion, civil society, and the system of an ethical world: Hegel on the Protestant ethic and the spirit of capitalism“, in: Hegel on Religion and Politics, hg. v. A. Nuzzo, New York 2013, S. 213-232.
[11] Sowie z.B. Ludwig Siep meint: „Das Christentum ist essentieller Gehalte beraubt und der Staat übermässig sakralisiert worden – zu Lasten der ‚Heiligkeit’ der individuellen Person. Man kann sich fragen, ob Hegel dabei seinen eigenen Grundbegriffen wie dem der Anerkennung, der Substantialität – die sich in ihren ‘Akzidenzen’ vollständig zum Ausdruck bringen müsste – der Wirklichkeit etc. nicht widerspricht.“ (Ludwig Siep, Aktualität und Grenzen der praktischen Philosophie Hegels: Aufsätze 1997-2009, München 2010, S. 113.) Ich wurde die entgegengesetzte These vertreten, dass Hegel gerade an derjenigen Stelle, wo er Religion und Staat verknüpft, noch das unaufhebbare Verhältnischarakter des Endlichen und Unendlichen Recht tut, sowohl in Bezug auf den Staat als auch auf das Individuum, die im ‚säkularen’ Bildungsprozess der bürgerlichen Gesellschaft abwesend scheint.
[12] G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Hamburg 1980.
[13] Ebd., S. 561-2.